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information & geschichte 34 | MÄRZ 2020 D ie österreichische Bundesver- fassung feiert heuer ihren 100. Geburtstag. Sie ist damit eine der ältesten noch in Geltung stehenden Verfassungen Europas. Die Habsburgermonarchie geht in der Katastrophe des Ersten Weltkrieges unter. Das massenhafte Sterben an der Front, der Hunger der Zivilbevölkerung und das rigorose Vorgehen gegen KritikerInnen zerstören auch das letzte Vertrauen in das habsburgische Herr- scherhaus. Die Sehnsucht nach Frieden ist groß. Tausende Soldaten desertieren. Zu Hause treten Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen in den Streik. Versuche, das Vielvölkerreich in einen Staatenbund umzubauen, misslingen. Der Weltkrieg hat in Österreich zur wirtschaftlichen Erschöpfung geführt. Der einst wirtschaftliche Großraum der Monarchie, der 53 Millionen Menschen umfasst hat, ist in viele kleine National- staaten zerfallen. Die Republik, die durch die Siegermäch- te erst zur Selbständigkeit gezwungen werden musste, war nicht das Ergebnis einer Revolution, sie war auch nicht das Produkt politischer Planung. Sie fiel den sozialdemokratischen, den christlichsozi- alen, den deutschnationalen Abgeordne- ten als Restmasse quasi in den Schoß. Aber diese Abgeordneten machten aus diesem fremdbestimmten Staat etwas Vernünftiges: Sie ließen eine Konstituierende Nationalversammlung wählen (bei der auch erstmals Frauen stimmberechtigt waren) und arbeiteten eine Verfassung aus. Dass diese Verfassung von 1920 auch noch 2020 die Verfassung der Republik ist, zeigt die Belastungsfähigkeit eines Regelwerkes und die Kompromissfähigkeit der republikgrün- denden Parteien. Es waren die Parteien, die aus einer von niemandem so gewollten Situation das Beste gemacht hatten. Sie waren - im Jahre 1920 - in der Lage, sich in der politischen Mitte zu treffen. Sie gaben der demokratischen Republik ein parlamentarisches System, eine bundesstaatliche Struktur und eine Verfas- sungsgerichtsbarkeit. Sie sicherten demokra- tische Wahlen, deren Ergebnisse von allen Parteien respektiert wurden. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie wurde Kelsen von Staatskanzler Karl Renner mit der Arbeit an einer Bundesstaatsverfas- sung für die junge Republik beauftragt. Baron Charles Montesquieu, ein franzö- sischen Denker, Aufklärer und Staatsphilo- soph, gilt als geistiger Vater der modernen Verfassung eines Staates, der die Gewalten- teilung in Exekutive = Regierung, Legislative = Parlament und Judikative = Gerichtsbar- keit (Justiz) als die drei wesentlichen Säulen eines Staatswesens vorsah und vordachte. Aufbauend auf seine Theorie formulierte der österreichische Jurist Hans Kelsen die neue österreichischen Bundesverfassung. Er entwickelte das – später so bezeichne- Notwendigkeit des Erinnerns: HANS KELSEN ALS ARCHITEKT DER BUNDESVERFASSUNG 100 Jahre österreichische Verfassung Dipl.-Ing. Alexander Ristic Journalist

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