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information & kunst

Das Gemälde:

NOCH IST DER RAUM LEER. NUR DIE GEMÄLDE AN DEN WÄNDEN DÖSEN

LEISE VOR SICH HIN.

Erfahrungen des Sehens

26 | JUNI 2016

Tina Cakara

Studentin

Junge Autorin

ˇ

sieht dann auf das Schild und wieder zurück

auf das Bild. „Eine Uhr?“, antwortet sie

leise. Die beiden gehen weiter. Zwei junge

Studenten nehmen ihren Platz ein. „Was

glaubst du stellt das dar?“, fragt der eine.

Der andere zuckt bloß mit den Schultern.

Ich höre diese Frage von allen. „Was ist

das?“ Immer dieselbe. Doch die Antworten

sind nie gleich.

„Das Leben?“

„Der Tod?“

„Schmerz?“

„Unsinn!“

Die Antworten der Gefragten klingen meist

selbst wie eine Frage:

„Ist es vielleicht ein Labyrinth?“

„Ist es ein Kreislauf?“

Alle fragen nach dem Bild, versuchen zu

antworten, sehen auf das Schild, wundern

sich.

Ich frage mich, ob ein Name alles ändern

würde? Was würden die Menschen fragen,

wenn Picasso auf dem Schild stünde?

Was würden sie denken, wenn Van Gogh

das Gemälde gemalt hätte?

Ich frage mich, doch eine Antwort be-

komme ich nie. So wie all die Menschen,

die nach dem letzten Gemälde fragen,

niemals eine Antwort bekommen. Denn der

Künstler oder die Künstlerin ist anonym.

Nicht mit dem Namen bekannt, unbekannt,

unwichtig. Oder?

Was denken die Menschen, wenn sie

anonym lesen? Schätzen die dann das Bild

überhaupt noch?

Meine Gedanken rasen, doch ich stehe

schweigend und reglos in der Ecke, doch

mit wachsamem Blick.

Als nächstes betritt eine Schulklasse den

Raum. Volkschulalter. Während die Lehrerin

den gewohnten Uhrzeigersinn einschlägt,

I

ch sehe auf meine Uhr. Bald kom-

men sie. Gemurmel durchbricht die

zuvor herrschende Stille. Der Raum

füllt sich. Ich trete aus dem Schatten

und deute auf das Warnschild neben

der Eingangstüre, das das Fotografieren

mit Blitz verbietet. Die Besitzerin der

Kamera ist einen Moment erschrocken.

Sie scheint mich zuvor nicht bemerkt

zu haben. Das ist nichts Unübliches. Ich

werde oft nicht bemerkt. Ich bin unauf-

fällig, durchschnittlich, leicht zu über-

sehen. Hier sieht man mich überhaupt

nicht. Ich trete wieder aus dem Licht in

die schwach beleuchtete Ecke, still, doch

mit wachsamem Blick.

ˇ

Die Menschen bewegen sich im Uhrzeigersinn, schenken manchen Bildern

Aufmerksamkeit, während sie andere kaum beachten. Schließlich kommen

alle zu dem letzten Gemälde im Raum. Noch nie ist jemand daran vorbei-

gegangen, ohne einen Blick darauf zu werfen. Und niemand hat nach dem

kurzen Blick seinen Weg fortgesetzt, ohne eine Weile bei dem Gemälde zu

verweilen. Alle haben es angesehen, als würden sie von etwas angezogen

werden.

Zwei Frauen flüstern eindringlich, doch ich verstehe ihre Sprache nicht. Ein

älterer Mann fotografiert das Bild, wirft einen Blick auf das Schild an dem der

Künstler angeführt ist, runzelt verwirrt die Stirn und verlässt anschließend den

Raum. Ich kenne seine Verwunderung. Alle wundern sich. Auch die beiden

Frauen deuten zuerst auf das Gemälde, dann auf das Schild, auf dem „ano-

nym“ steht.

Es ist das einzige Bild in diesem Raum dessen Künstler nicht bekannt ist.

Keine Legende, keine Jahreszahl, nicht einmal eine Signatur. Die letzten

Touristen verlassen den Raum und lassen ihre Schatten als Stille zurück. Ich

schließe die Augen, atme ruhig, tief. Eine weitere Gruppe von Menschen tritt

ein. Der Kreislauf im Uhrzeigersinn beginnt. Schritte auf dem Parkettboden,

das Quietschen der Räder eines Rollstuhls. Bild nach Bild wird angesehen,

bewundert und wieder vergessen. Schritte. Gemurmel. Dann Stille.

„Was ist das?“, fragt ein Mann mit langem Bart. Eine Frau mit Brille und

kurzen Haaren neben ihm betrachtet das letzte Gemälde einen Augenblick,