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information & erinnerung Eva Goslar: OKSBOEL, AN DER WESTKÜSTE JÜTLANDS, DÄNEMARK, 1945 – 1948 Eulalia 34 | SEPTEMBER 2020 M eine erste Puppe hieß Eulalia. Eulalia Semmelkloß. Ich kann mich nicht erinnern, wie sie zu diesem skurrilen Namen kam, vielleicht haben sich die Erwachsenen bei der Namenssuche einen Spaß mit mir gemacht. Auch könnte ihr Äußeres die Assoziation Semmelkloß bewirkt haben. Wie dem auch sei, ich liebte meine Puppe sehr und verteidigte sie gegen jede Preis- gabe der Lächerlichkeit. Eulalias weicher Körper bestand aus einem weißen Baumwollstrumpf, Arme und Beine waren mit einem Faden abge- bunden und so wie der Leib mit Woll- resten gefüllt. Das machte Eulalia warm und kuschelig. Genau genommen war meine Puppe dänische Staatsbürgerin. Von Ostpreu- ßen aus waren wir im März 1945 nach Dänemark geflüchtet. Mit einem Schiff über die Ostsee. Wir wurden einem Lager in der Nähe der Stadt Oksboel, unweit der dänischen Westküste, zugeteilt. Eine junge Lehrerin, die mit uns und vielen an- deren Flüchtlingen in einer Baracke lebte, hatte Eulalia für mich genäht, zum Trost, als ich einmal sehr krank war. Damals war ich drei Jahre alt. Eulalia hatte wunderbare Augen, aus blauem Perlgarn gestickt, und einen knallroten lachenden Mund. Ihr fröh- liches Gesicht sollte mich aufheitern. Aber die grobe Sticknadel hatte Löcher gestochen, daraus wurden Laufmaschen, die aussahen wie Tränen. Tränen lie- fen aus Eulalias wunderbaren blauen Perlaugen bis hinunter zu dem roten Mund. Also lächelte sie ständig unter Tränen und entsprach so meiner kindlichen Ge- mütsverfassung. Einerseits war ich glücklich, mit meiner Familie einer mir unerklärlichen Bedrohung, die den Namen Krieg hatte, entkommen zu sein. Andrerseits war das Leben in dem Lager für ein Kind mit neuen Ängsten verbunden. Mutter und Großmutter waren oft fort, mußten in der Wäscherei, der Krankenstation, der Küche helfen. Wir Kinder waren strengen Ordnungen unterworfen, standen gehorsam und diszipliniert Schlange beim morgendlichen Waschen, beim Essen holen, beim Entlausen oder der unausweich- lichen Zuteilung des täglichen Löffel Leber- trans, der schrecklich ölig im Hals würgte und nach altem Fisch schmeckte. Nur das Zuhal- ten der Nase half ein wenig, diese Prozedur zu überstehen. Abends auf der Strohmatratze auf dem kalten Fußboden der muffigen Baracke hielt ich meine Eulalia fest an mich gedrückt und erzählte ihr, was mich beschäftigte. Von den Männern in den Uniformen, mit den schwar- zen Stiefeln, vor denen ich mich schrecklich fürchtete. Von dem Stacheldraht, an dem die kleinen Ausflüge mit meinen Geschwistern endeten, und von meinen Träumen, einmal die Welt dahinter zu sehen. Aber niemand durfte hinaus aus diesem Lager. Meine Mut- ter sagte, die Leute auf der anderen Seite des Zaunes hätten Angst vor uns. Meine übergroße Liebe, meine zärtlich drückenden Hände, ließen Eulalias weißen Körper grau und grauer werden. Die nette Lehrerin versuchte, sie vorsichtig mit etwas Kernseife zu waschen. Aber das mochte Eulalia überhaupt nicht, was ich sehr gut verstand. Ihr flachsblondes Wollhaar verfilzte Als wir Räuber und Gendarm spielten Erinnerungen von Kindern an ihre Spiele 1930-1968 Band 29 | Reihe Zeitgut Geschichten und Berichte von Zeitzeugen 256 Seiten mit vielen Abbildungen Ortsregister Zeitgut Verlag, Berlin www.zeitgut.de ISBN: 3-86614-226-8 Fotos: © Zeitgut-Verlag

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